Theater unterm Dach

Theater unterm Dach

LesungErstes Blut – Primera Sangrevon María Velasco | aus dem Spanischen von Franziska Muche

Carlos Luque | Lolo Vasco

Das Theater hatte schon immer eine Beziehung zu den Toten und zur Figur des Wiedergängers: Zurückgekehrte werden auf der Bühne wiedergeboren und erzählen post mortem ihre Geschichte. In Erstes Blut geht es um ein in den 1990er Jahren entführtes und ermordetes Mädchen – der Fall wurde zu den Akten gelegt, der Mörder nie gefunden.

Im Stück ist Laura nicht mehr da und doch die ganze Zeit anwesend (die Toten respektieren die Totenruhe nicht). Laura interagiert mit ihren gleichaltrigen Nachbarn ihres Alters, mit dem Kommissar, der für den Fall zuständig war, und einer Erzieherin: Erziehen wir in einem Klima der Angst? Schützt Angst vor Gefahr oder verhindert sie das Leben? Ist Rape Culture eine Art offene Geheimgesellschaft, wie die Anthropologin und Aktivistin Rita Laura Segato sagt? Welche Missbrauchsstrukturen haben wir verinnerlicht?

Erstes Blut kommt als Autofiktion, Thriller und Gespenstergeschichte daher und zwingt uns, über den Missbrauch in der Kindheit nachzudenken, der im Körper vieler Frauen fortlebt. Poetisch und eindringlich lädt Erstes Blut uns dazu ein, uns zu erinnern; viele zu sein.

Für Erstes Blut wurde die Autorin María Velasco 2024 mit dem Spanischen Nationalpreis in der Kategorie Dramatik ausgezeichnet.

"Laura wurde 30 Jahre nach ihrem Tod wieder in mir lebendig: Als ein Freundin aus meiner Heimatstadt mir erzählte, dass sie mit einem Mädchen schwanger sei, begann ich mit der Arbeit an diesem Text. Aber Lauras Foto – das Plakat mit dem großen Aufdruck „GESUCHT“ – habe ich immer vor Augen ge. Ich war damals genauso alt wie sie, das vermisste (und später ermordete) Mädchen, und lernte gerade, Bekanntes von Unbekanntem und Angst von Leichtsinn zu unterscheiden, so wie man lernt, Grün und Rot auseinanderzuhalten. Während meiner gesamten Pubertät schwankte ich zwischen diesen beiden Extremen hin und her, bis ich mir Hölderlins Satz zu eigen machte: 'Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch'.

Es stimmt nicht, dass Mädchen so erzogen werden wie Jungen: nachts darf man nicht überall auf die Straße gehen, Fremden sollte man nicht trauen, auch wenn sie freundlich sind ... „Nichts in der Welt konnte doch mit roten Schuhen verglichen werden!", heißt es in der Geschichte, in der die roten Schuhe die Anti-Heldin unermüdlich durch Wald und Feld tanzen lassen. Zum Glück haben wir in unserer Jugend – obwohl wir Angst hatten, oder vielleicht, um ihr etwas entgegenzusetzen – auch rote Schuhe getragen.

Erstes Blut ist ein Totentanz, eine Art verspätete Trauer um die in den 1990er Jahren ermordeten Mädchen – und um die Mädchen, die rausgegangen sind und sich dafür entschuldigt haben, weil sie das Gefühl hatten, dass der öffentliche Raum ihnen nicht gehört."

María Velasco

Es lesen: Michael Stobbe, Josepha Grünberg, Kotbong Yang u.a.
Spielleitung und Konzept:
Franziska Muche und Alexander Schröder

 

María Velasco, geb. 1984 in Burgos, Dramatikerin, Regisseurin und Dozentin, ist eine der bekanntesten Stimmen der jüngeren Generation spanischer Theatermacher*innen. Sie studierte Dramaturgie an der Real Escuela de Arte Dramático, absolvierte einen Master in Szenischer Praxis und Visueller Kultur an der Universidad de Castilla – La Mancha und promovierte in Audiovisueller Kommunikation an der Universidad Complutense in Madrid. Sie war jahrelang Koordinatorin des Masterstudiengangs Pensamiento y Creación Escénica Contemporánea (Denk- und Schaffensprozesse im Gegenwartstheater) an der Esadcyl (Escuela Superior de Arte Dramático de Castilla y León) und ist weltweit als Dozentin tätig.
María Velasco hat mehr als ein Dutzend Theaterstücke veröffentlicht, 2022 erschienen fünf ihrer Stücke unter dem Titel Parte de lesiones (Personenschaden) in einem Sammelband im renommierten Verlag La Uña Rota. Ihr Stück Die Einsamkeit der Hundesitter liegt in der Übersetzung von Franziska Muche und Carola Heinrich als Teil der Anthologie Schattenschwimmer. Neue Theatertexte aus Spanien (Neofelis, Oktober 2022) vor. Für Talaré a los hombres de sobre la faz de la tierra (dt. Ich will die Menschen ausroden von der Erde, aus dem Spanischen von Franziska Muche) wurde sie 2022 mit dem Premio Max als beste Theaterautorin und dem internationalen Autor*innenpreis des Heidelberger Stückemarkts ausgezeichnet und landete in der Eurodram-Auswahl 2023.

Franziska Muche ist freie Übersetzerin für Theater. Sie ist Diplomkulturwirtin mit Schwerpunkt Spanien/Lateinamerika (Univ. Passau), Licenciada in Übersetzung und Dolmetschen (Univ. Granada) und ausgebildete Schauspielerin (Michael Tschechow Studio/ZAV). Von 2013 bis 2016 leitete sie die Reihe szenischer Lesungen Ambigú in der Alten Kantine Wedding. Sie übersetzt zeitgenössische Theatertexte aus dem Spanischen und, zusammen mit Pilar Sánchez Molina, auch ins Spanische, und übertitelt Gastspiele. Zu ihren Übersetzungen zählen u.a. Texte von Sergio Blanco, Manuela Infante, María Velasco, Guillermo Calderón, Jose Manuel Mora; Marius von Mayenburg, Sibylle Berg und Rebekka Kricheldorf. 2020 wurde sie mit einem Exzellenzstipendium des Deutschen Übersetzerfonds ausgezeichnet. 2021 und 2022 war gab sie mit Carola Heinrich zwei Anthologiebände zur spanischsprachigen Dramatik heraus und leitete die damit verbundenen Veranstaltungen im Rahmen von panorama#1 und panorama#2 von Drama Panorama e.V. Seit 2021 hält sie Vorträge und Seminare zur Theaterübersetzung an Hochschulen. Auch im Rahmen ihrer Gastdozenturen kamen die Ambigú-Karten bereits zum Einsatz. Sie lebt in Berlin. www.franziskamuche.de

 

Zum Format:
Ambigú ist eine spielerische Entdeckungsreise, die einer ersten Leseprobe nachempfunden ist. Mithilfe von Spielkarten untersuchen wir Theatertexte, prüfen sie auf ihre Bühnentauglichkeit und lassen im Raum eine Ahnung von dem Stück entstehen, wie es in seinen verschiedenen Varianten auf der Bühne Gestalt annehmen könnte.

Aufführungen